Irgendwie scheint aber heute keine Zeit mehr zu sein, sinnvoll die Lehrangebote auf die Entwicklungsschritte der Kinder abzustimmen. Dabei weiß man, dass im Vorschulalter die Aufmerksamkeit selektiv schwankend ist und Bildfolgen im Fernsehen sogar bis zum Alter von 9 Jahren noch Schwierigkeiten bereiten können. Bis zum Schuleintritt gibt es Probleme, Bilder richtig in Beziehung zu setzen, so dass kein Ursache-Wirkungsverhältnis erkannt werden kann. Bis ins späte Vorschulalter hinein werden von der Mehrzahl der Kinder Zeitsprünge in Filmen nicht begriffen, Rückblenden und ähnliches sind für sie unverständlich. Mit dem Schuleintritt sollte die Fähigkeit, Fiktion von Realität zu unterscheiden, erworben werden, was durch das Fernsehprogramm jedoch nicht begünstigt wird.
Auf der anderen Seite entwickeln sich die Sinne im späten Vorschulalter sprunghaft und bedürften Anregungen – und zwar immer noch für alle Sinne, also auch Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn. Ca. zwischen dem 5. und 6. Lebensjahr verdoppelt sich die Gedächtnisleistung eines Kindes. Jeder kann sich an dieser Stelle fragen, womit das Gedächtnis vieler Kinder in diesem Lebensabschnitt gefüllt wird. Die Sendung mit der Maus ist beispielsweise für Fernsehanfänger denkbar ungeeignet, obwohl sie dafür empfohlen wird. Die Altersklasse der 4-Jährigen ist zunächst einmal sowieso die falsche Zielgruppe – denn Fernsehanfänger sollte man frühestens im Alter von 6 Jahren sein: Innerhalb von einer halben Stunde wechseln mindestens sechs verschiedene Beiträge, die sich in Thematik, Aufmachung und Symbolschlüssel stark unterscheiden (Bildergeschichten, Puppenspiel, Dokufilmsequenzen etc.). Diese werden durch ein Wiederholelement unterbrochen, die Maus als Zeichentrickfigur, die aber jedes Mal mit einer eigenen Geschichte daher kommt. Wer seinem Kind Konzentration, Interesse für und Auseinandersetzung mit einem Thema beibringen will, und das ist in dieser Lebensphase angesagt, sollte diese Form der Präsentation noch meiden. Statt dessen sind thematisch einheitliche Sendungen vorzuziehen, die wirklich stereotyp über lange Zeit hinweg bei einem Motiv der Darstellung bleiben, ohne schnelle Schnitte – etwa Sportsendungen wie Tennisspiele oder Skispringen, aber auch Tierdokumentationen und dergleichen. Allerdings reicht auch hierfür der Einstieg ab frühestens 6 Jahren.
Kleine Kinder bis zum Alter von ca. 4 Jahren können die Diskrepanz zwischen Lautquelle und Bild etwa bei Zeichentrickfilmen oder Computeranimationen nicht verstehen. Zeichentrick und Kinderprogramme sind übrigens mitnichten harmlos, auch hier dominieren Hektik und Gewalt – auch der KiKa bildet da keine Ausnahme, der ähnlich lautes Geschrei produziert wie Benjamin Blümchen-Hörspiele. TV-Kinderprogramme sind so ausgerichtet, dass sie mit banalsten Effekten und vor allem Lautstärke ständig versuchen, die Aufmerksamkeit der Kinder wieder auf sich zu ziehen, da Kinder leicht durch ganz andere Tätigkeiten vom Fernsehen abgelenkt werden können. Auch die Reaktionen auf diese Reize lassen sich freilich kultivieren, und Kinder mit vielen solcher Medienerfahrungen laufen Gefahr, die ruhige Zuwendung, die reale Natur, das Lernen in der Schule als langweilig zu empfinden.
Die Wahrnehmungsstrukturen von Kindern ändern sich bis zum Ende der Grundschulzeit noch stark. Natürlich kann eine gezielte Auseinandersetzung den individuellen Erfahrungshorizont beeinflussen und erweitern, wie dies der Kinderpsychologe Jean Piaget ganz allgemein feststellen konnte – dennoch sind einzelne Entwicklungsschritte nicht überspringbar und damit auch nicht umkehrbar.
So können sich für Erwachsene lehrreiche Darstellungen und Anwendungen, etwa in der Gerontologie zum Gedächtnistraining, für kleine Kinder als kontraproduktiv erweisen, weil sie diese nicht einordnen und verarbeiten können – da sie beispielsweise zunächst einen Gegenstand ertastet und erlutscht haben müssen, um schließlich abstrakt Gestaltungselemente in einer Animation als verändert wahrzunehmen, etwa eine veränderte Oberfläche oder Farbe. Eine visual literacy muss ebenso erworben werden, wie eine lingual literacy. Dabei findet die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten parallel zu den motorischen statt, die Prävalenz des Motorischen dominiert aber lange. Wer sich nicht bewegt und keine Räumlichkeit erlebt, etwa durch eine Lähmung in früher Kindheit, wird nicht nur in der Zukunft Schwierigkeiten mit dieser Wahrnehmungsebene bekommen, er/sie wird auch Schwierigkeiten im Erkennen mathematischer Zusammenhänge haben.
aus: Kapitel 2 „Kindsentwicklung als Leitfaden für die Medienerziehung“ von Schiffer, Sabine (2013): Bildung und Medien. Was Eltern den Pädagogen wissen müssen.